Miteinander gestalten - Open Space als sozialkreatives Werkzeug
von Dr. Elke Böckstiegel und Dr. Martin Böckstiegel
(Beitrag in der Erziehungskunst, September 2016, S. 53 ff. anlässlich des erstmaligen Einsatzes der Open Space Technology - angeleitet von Dr. Elke Böckstiegel - auf einer Bundeselternratstagung, der Jahrestagung aller Elternvertreter aller deutschen Waldorfschulen)
Miteinander das Miteinander gestalten
Dies ist der Wunsch vieler Lehrer, Erzieher, Eltern und Schüler in Waldorfeinrichtungen, stehen sie doch vor komplexen Fragen, die von der Gemeinschaft im Rahmen der „Selbstverwaltung“ gestaltet werden wollen.
Entgegen aller Unkenrufe stecken in diesem Wunsch viel Energie für und Lust an sozialschöpferischer Ko-Kreation. Auf Pädagogenseite ist sie durch die aktive Teilnahme an der Selbstverwaltung sowieso gegeben. Auch Eltern haben diese Lust und Kraft, wie letztens durch die WEIDE Studie beeindruckend belegt wurde. Schüler haben Lust ihre Schule zu gestalten, sonst würden keine Schülerzeitungen, alternative Schul-Webauftritte und Schülertagungen existieren. Natürlich gibt es auch diejenigen, die aus den unterschiedlichsten Gründen nicht aktiv sind, aber es sind immer genügend Menschen da, die Gestaltungslust und -energie haben.
Wir möchten diesen lustvollen Gestaltern das Arbeitsformat Open Space ans Herz legen. Zum einen unterstützt es sie, in einem minimal strukturierten Rahmen mit viel Freiheit, Perspektivenreichtum und Kreativität, Gestaltungswege mit hohem Umsetzungspotential zu finden. Zum anderen passt es hervorragend zur Philosophie Rudolf Steiners, gehen doch beide vom freien, selbstbestimmten Menschen aus, dessen Aufgabe es ist, mit aller Ich-Kraft miteinander Gemeinschaft zu gestalten. Ein gut aufgesetztes Open Space setzt enorme Energien frei, das gewählte Thema miteinander konstruktiv zu bearbeiten und wirkt deutlich über die eigentliche Veranstaltung hinaus.
Was ist ein Open Space?
„Open Space“ ist eine Arbeitsform, in der große Gruppen (20 bis über 1000 Teilnehmer) gemeinsam ein Thema bewegen. Open Space wurde vor über 30 Jahren in den USA von Harrison Owen entwickelt und wird weltweit angewendet, wenn Menschen miteinander gestalten wollen.
Das Thema eines Open Space ist eine offene – also nicht mit „Ja“ oder „Nein“ beantwortbare - und komplexe Frage. Sie sollte für die Teilnehmer des Open Space relevant und akut sein, also eine lebendige Frage, die nicht auf die nächsten Jahre verschoben werden kann. Soziale Fragen sind meistens komplex, wie z.B. die Frage, wie in einer Schulgemeinschaft gemeinsam gearbeitet wird. Wenn sie auch von vielen als drängend, akut, relevant und nicht verschiebbar angesehen wird, dann ist sie für ein Open Space sehr geeignet.
In einer Vorbereitungsgruppe sollte die Frage, ob ein Open Space das richtige Format ist, die Festlegung des genauen Themas und der Rahmenbedingungen festlegt werden. Idealerweise sind bei der Vorbereitung alle Teilnehmergruppen repräsentiert. Je kontroverser das gewählte Thema ist, umso besser. Denn in der Großgruppe kann die inhaltliche Auseinandersetzung effektiver und einfacher geleistet werden als in Kleingruppen.
Ein Open Space kann von vier Stunden bis zu drei Tage dauern, dies ist abhängig davon, welche Arbeitsergebnisse in welcher Tiefe generiert werden sollen. Als Faustregel gilt: Je kontroverser und/oder komplexer die Ausgangslage umso mehr Zeit sollte eingerechnet werden.
Die Open Space Veranstaltung beginnt mit einem Anfangsplenum, in dem alle Teilnehmer in einem großen Stuhlkreis zusammen kommen. Der Open Space Begleiter erklärt kurz das Verfahren und dann geht es auch schon los: Die Teilnehmer treten in die Mitte des Kreises, benennen ihre Anliegen und bilden mit anderen, die dieses Anliegen teilen, Gruppen. In den so gebildeten Anliegengruppen werden die Anliegen bearbeitet, die Ergebnisse in Protokollen festgehalten und sofort allen Teilnehmern zugänglich gemacht. Alle lesen die Protokolle und ergänzen sie. Danach stehen im Plenum wieder Teilnehmer auf, gehen in die Mitte, dieses Mal um für ein bestimmtes Projekt Verantwortung zu übernehmen. Die anderen Teilnehmer können weitere Arbeiten in den Projekten übernehmen. So entsteht der Übergang vom Open Space in die Umsetzung der Projekte.
Open Space macht so wenig Vorgaben wie möglich, es gibt nur ein notwendiges Minimum an Struktur, um Arbeit zu ermöglichen. So sind die Arbeitsbereiche mit Materialien ausgestattet und vorbereitet, ein pausenloses Buffet sorgt für Erfrischung und Stärkung. Die Open Space Begleiter halten die Energie und kümmern sich um die Dokumentationen und alles, was sonst benötigt wird.
Auf dieses Strukturgerüst aufsetzend wirken die Prinzipien der Freiwilligkeit und Selbstorganisation:
- Freiwilligkeit, damit im Open Space konstruktiv gearbeitet wird: Wer gezwungen wird und sich mit dem Thema nicht verbindet, kann im Zweifel nichts Konstruktives beizutragen.
- Die Selbstorganisation ist in dem einzigen Gesetz des Open Space, dem sogenannte Gesetz der „zwei Füsse“ zusammengefasst: Jeder, der nicht mehr konstruktiv zum Gruppengeschehen oder dem eigenen Lernen beiträgt, geht mit seinen zwei Füssen dort hin, wo er produktiver ist. 4 Grundsätze, 2 Erscheinungen und 1 Empfehlung konkretisieren die Grundregeln der Zusammenarbeit.
Wie wirkt ein Open Space?
Für viele, die zum ersten Mal an einem Open Space teilnehmen, ist das eine ungewohnte Arbeitsweise. Es nutzt auch nicht, es möglichst umfassend zu beschreiben, denn erst beim „Durchleben“ wird klar, was gemeint ist. Auf der Bundeselternratstagung 2016 wurde das erste Mal in diesem Format gearbeitet. Trotz verschiedener Beschreibung des Formates merkten wir als Open Space Begleiter sowohl in der Vorbereitung als auch in dem Moment, als die 120 Teilnehmer sich im Raum einfanden, dass es sich keiner vorstellen konnte. Unsicherheit, Unwohlsein, Spannung, Neugierde, Skepsis – alles war gleichzeitig da. Dann führten wir 25 Minuten in das Verfahren ein und schon war alles wie weggeblasen, die letzten Worte gingen unter, weil alle schon ins fröhliche Arbeiten, konzentrierte Zuhören, Abwägen, wo man jetzt produktiv sein könnte, stürmten. Vielleicht lässt es sich damit erklären, dass diese Arbeitsweise unserem urmenschlichen Grundimpuls folgt und wir deshalb mühelos, schnell und fröhlich mittun.
Im Open Space entsteht maximaler Raum für sozialschöpferische Impulse, es wirkt befreiend, öffnend, angenehm passend, freies Atmen ist möglich. Jeder kann sich ihm gemäss einbringen, niemand wird gezwungen, jeder schafft sich den Rahmen so, dass er maximal produktiv ist. Aufgrund dieser Konzentration entsteht mit einem Schlag enormer Reichtum an Perspektiven und Gestaltungsmöglichkeiten. Und wie „nebenher“ wird Gemeinschaft gebildet, gefestigt und gestärkt, weil Menschen miteinander so ins Tun kommen, dass sie sich erstmalig, neu, tiefer oder anders begegnen.
Es wird Energie bei jedem einzelnen, in den Anliegengruppen und in der Großgruppe freigesetzt, die sich im Großgruppeneffekt potentiert und unmittelbar in Arbeit am Thema umgesetzt wird. Gut aufgesetzt, ist die Energie eines Open Space so stark, dass sie der konstruktiven Umsetzung des im Open Space Vereinbarten starken Rückenwind gibt.
Anwendungsmöglichkeiten von Open Space
Das Format ist – je nach Zielsetzung - in vielfältigen Zusammenhängen für eine ganze Waldorf-einrichtung, Teile davon oder über die Einrichtungen hinausgehend einsetzbar.
Für die Arbeit mit der gesamten Gemeinschaft sind z.B. folgende Fragen geeignet: „Wie soll unsere Einrichtung in 20 Jahren sein?“ - „Welche Schulabschlüsse soll die Schule in Zukunft anbieten?“ - „Wie wollen wir als Gemeinschaft zusammenarbeiten?“. Hier kommen Menschen miteinander ins Arbeiten, die dies sonst nicht oder nicht so tun: Eltern mit Pädagogen, Schüler mit Mitarbeitern, Eltern mit Schülern. Dies ist ein großer Beitrag zur Gemeinschaftsbildung über die klassischen Gruppen hinweg. Im normalen Schulalltag gibt es wenig Möglichkeiten miteinander in ein Tun zu kommen, dass nicht durch Einzelinteressen charakterisiert ist. Bleibt es nicht nur bei einer einmaligen Veranstaltung, sondern wird an der Schule in regelmässigem Abstand ein Open Space veranstaltet, gibt die Gemeinschaft sich einen regelmässigen Impuls und Energieschub zum konstruktiven Miteinander Gestalten.
Auch die Arbeit mit einem Zielgruppenschwerpunkt ist denkbar z.B. zu speziellen pädagogischen Themen: „Wie können wir den Übergang von der Mittelstufe zur Oberstufe besser gestalten?“ oder „Wie gehen wir pädagogisch mit der Mediennutzung der Schüler um?“. Bei Themen, die vorrangig eine Teilnehmergruppe ansprechen, sollte darauf geachtet werden, dass für die Erweiterung der Perspektiven auf das Thema möglichst auch angrenzende Gruppen wie Schüler und Eltern angesprochen werden. Es gilt der Grundsatz: Je heterogener ein Open Space, umso reicher ist der Input, umso kreativere Antworten können entstehen. Auch dies geht ein wenig gegen die Gewohnheit, ist aber für die sozialschöpferische Arbeit essentiell.
Eine weitere Anwendungsmöglichkeit ist ein Open Space, dass dem Austausch und der Vernetzung zu einem Thema dient, z.B. Veranstaltungen auf regionaler, bundesweiter oder internationaler Ebene. Hier liegt der Schwerpunkt im Austausch, der Vernetzung, der „Energiegewinnung“ für das Thema an sich und weniger in konkreten Handlungsergebnissen. Dass auch diese Spielart bestens funktioniert, wurde auf der diesjährigen Bundeselternratstagung sehr deutlich.
Worauf sollten Initiatoren von Open Space Veranstaltungen im Vorfeld achten?
Gerade weil Open Space sehr viel Energie entfalten kann, müssen die Initiatoren damit rechnen, dass sie mit diesem Aufruf Kräfte wecken, mit denen sie im Nachhinein umgehen müssen. Daher sollte schon in der Vorbereitung die Bereitschaft sichergestellt werden, dass die aus dem Open Space sich entwickelnden Initiativen grundsätzlich gewollt und willkommen sind. Die möglicherweise vorhandene Angst, dass aus dem Open Space etwas entsteht, was nicht kontrolliert oder gewollt ist, sollte gesehen werden. Hier kann es eine Beruhigung sein darauf zu vertrauen, dass die Projekte aus einem konstruktiven Impuls entstehen, der normalerweise über das Open Space hinaus wirkt. Es sind konkrete Umsetzungsprojekte zu einem konkreten Thema, das in aller Breite „vorbehandelt“ wurden. Aufgrund dieser Konkretheit kann in einem solchen Projekt normalerweise auch nach einem Open Space konstruktiv weiter gearbeitet werden. Und: Am Ende mündet jedes Projekt nur dann in eine reale Umsetzung, wenn es die anderen in der Schule vorhandenen Kräfte mitnehmen kann und diese wiederum nicht blockieren. So kann die Umsetzungsfähigkeit der Gemeinschaft auch eine Nagelprobe dafür sein, wie gut Miteinander an der Schule gelebt wird.
Bestehen grundsätzliche, vom Sachthema unabhängige Konflikte in der Organisation, sollte sehr genau überlegt werden, ob das Format passend ist. Wenn man dennoch ein Open Space machen möchte, ist es ratsam, sich hierzu externen Fachrat zu holen, denn es besteht die Gefahr, dass das Open Space weder den grundsätzlichen Konflikt angeht noch das Sachthema klärt, sondern die Probleme lediglich verschärft.
Wir möchten noch auf einen weiteren Punkt hinweisen: Das Thema sollte wirklich als eine offene Frage gemeint sein und nicht „benutzt“ werden, um eine schon im Vorfeld gefundene Antwort durch die Schulgemeinschaft bestätigen zu lassen.
Auf der Bundeselternratstagung wurde mehrfach die Frage gestellt, wo man den Umgang mit Open Space lernen kann. Da es derzeit kaum Trainingsangebote gibt, haben wir die Initiative ergriffen und für den freien Bildungsbereich ein Training in Workshopform organisiert: In Zusammenarbeit mit Yaari Pannwitz, einem sehr erfahrenen Open Space Begleiter und Trainer. In Berlin vom 1. - 3. 10. 2016. Weitere Informationen unter: www.harmoniaacademy.de/openspace.